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Stellungnahme der ZKBS zum Vorschlag der Europäischen Kommission zur Neuregulierung von Pflanzen, die mit "Neuen Genomischen Techniken (NGT)" gezüchtet wurden

Oktober 2023

Download der Stellungnahme als PDF ; Download of the Position Statement in English

AUSGANGSSITUATION

Der Europäische Gerichtshof hatte am 25.07.2018 entschieden, dass Pflanzen, die mit bestimmten neuen genomischen Techniken (z. B.: CRISPR/Cas9) gezüchtet werden („NGT-Pflanzen“), in der EU als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) eingestuft werden sollten, also genauso streng reguliert werden wie bereits gesetzlich regulierte GVOs, die z. B. artfremde Gene enthalten.

Am 30.04.2021 hat die Europäische Kommission eine Studie veröffentlicht, die darlegt, dass eine strenge Regulierung dem geringeren Risikopotential der NGT-Pflanzen nicht gerecht wird [1]. Außerdem bieten NGT-Pflanzen Möglichkeiten für das Ziel der EU, eine ressourcenschonendere Landwirtschaft zu entwickeln. International haben eine Reihe von Ländern NGT-Pflanzen von einer gentechnikrechtlichen Regulierung ausgenommen, so dass hier zahlreiche Beispiele zur Verbesserung von Nutzpflanzen realisiert wurden und die ersten Pflanzen auf dem Markt sind. Die derzeitige EU-Regulierung erfordert eine eindeutige Identifikation von NGT-Pflanzen, was für diese in der Regel technisch nicht möglich ist.

VORSCHLAG DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION

Am 05.07.2023 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Neuregulierung von NGT-Pflanzen veröffentlicht [2]. Es soll kein "opt-out" einzelner Mitgliedsstaaten geben, d. h. diese Regelungen sollen EU-weit gelten. Die Regelungen gelten für alle Pflanzenarten einschließlich Makroalgen. Verkürzt dargestellt werden folgende Neuerungen vorgeschlagen:

NGT-1: NGT-Pflanzen mit bestimmten genetischen Veränderungen (Punktmutationen, Insertionen bis 20 nt oder zusammenhängender DNA-Sequenzen beliebiger Länge aus dem Genpool des Züchters, beliebige Deletionen, Inversionen) werden zukünftig nicht im Gentechnikrecht reguliert. Es erfolgt keine Kennzeichnung von aus diesen Pflanzen gewonnenen Lebensmitteln, Futtermitteln und sonstigen Produkten. Saatgut hingegen wird gekennzeichnet. Es wird ein öffentliches Register eingerichtet, das NGT-Pflanzen mit ihren Veränderungen auflistet, so dass diese für Züchter und Anbauer erkennbar sind und genutzt oder nicht genutzt werden können. Die Zahl solcher Veränderungen im Genom ist auf 20 begrenzt.

NGT-2: NGT-Pflanzen mit genetischen Veränderungen, die nicht unter NGT-1-Pflanzen fallen, bleiben im Regulierungsbereich des Gentechnikrechts und werden als Einzelfall entschieden.

STELLUNGNAHME DER ZKBS

Allgemeine Bewertung des Vorschlages

Die ZKBS begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission für eine angepasste Regulierung von Pflanzen, die mit neuen genomischen Techniken gezüchtet wurden.

Die bisherige restriktive Regulierung spiegelte nicht den Stand der Wissenschaft wider, da Pflanzen, die mit NGT (z. B. Genomeditierung mittels CRISPR/Cas9) gezüchtet wurden, typischerweise genetische Veränderungen enthalten, die auch auf natürlichem Wege oder durch klassische Züchtungsmethoden (inklusive Kreuzungs- und Mutagenesezüchtung) entstehen können. Aus der Sicht der ZKBS und anderer nationaler Überwachungs- und Vollzugsbehörden sowie der EFSA (European Food Safety Authority) besitzen solche NGT-Pflanzen daher kein erhöhtes Risiko gegenüber klassisch gezüchteten Pflanzen [3].

Die Neuregulierung sieht vor, dass NGT-Pflanzen, deren genetische Veränderungen auch durch natürliche Prozesse oder klassische Züchtungsmethoden entstehen können (NGT-1), mit klassisch gezüchteten Pflanzen rechtlich auf eine Stufe gestellt werden und von der GVO-Regulierung ausgenommen sind. Hiermit folgt der Vorschlag der Praxis derjenigen Länder, in denen solche Pflanzen schon jetzt nicht als GVO reguliert werden, wie z. B. USA, Kanada, Japan und Argentinien. Weltweit liegen nach weniger als 10 Jahren bereits hunderte Beispiele von NGT-Pflanzen vor, darunter eine Vielzahl mit vorteilhaften Eigenschaften. Die Nutzung von NGT ermöglicht es, züchterische Ansätze schneller und präziser zu realisieren, so dass eine ressourcenschonende Landwirtschaft, wie sie in der EU verwirklicht werden soll, unterstützt werden kann.

Die ZKBS erwartet, dass bei einer möglichen Anwendung von NGT-Techniken in Wildpflanzen sowohl die in internationalen und nationalen Regelungen festgelegten naturschutzbiologischen Ziele (z. B. CBD, RL 43/92/EWG, BNatSchG §40) als auch die Nutzung des Potentials von Wildpflanzen für die züchterische Weiterentwicklung von Nutzpflanzen von der neuen Regulierung unbeeinflusst bleiben.

Im Detail hat die ZKBS folgende Anmerkungen

1. Insertionsgröße

Die von der Kommission vorgeschlagene Grenze für die Insertion einer beliebigen Sequenz liegt bei einer Länge von 20 inserierten Nukleotiden (NGT-1) und spiegelt damit eine frühere Stellungnahme der ZKBS wider [4]. Insertionen dieser Größe treten z. B. in weltweiten Vertretern von Arabidopsis thaliana natürlicherweise häufig auf [5]. Neuere Genomvergleiche von Nutzpflanzen mit größeren Genomen zeigen auch deutlich größere Genomvariationen. In den sequenzierten Genomen von 101 Wild- und Kulturpflanzen aus den Arten Gerste, Kartoffel, Sojabohne und Tomate fanden sich über 3 Millionen Sequenzveränderungen von mehr als 50 Nukleotiden Länge, oft von 1000 Nukleotiden und mehr [6–10]. Aus den häufigen natürlichen Insertionen von 20 und mehr Nukleotiden in den Genomen von Pflanzen ist für die ZKBS erkennbar, dass mit steigender Größe der Insertion kein unmittelbarer Anstieg eines Risikos verbunden ist.
Die vorgeschlagene Grenze von 20 inserierten Nukleotiden ist technischer Natur, um eine juristisch festlegbare und damit anwendbare Abgrenzung zu komplexeren Veränderungen, wie sie mit den neuen genomischen Techniken auch erzeugt werden können, zu erreichen. Angesichts der neuen Erkenntnisse zur Genomforschung ist die Grenze von 20 Nukleotiden wissenschaftlich überholt. Ein Verfahren zur Anpassung dieser Grenze, die mit dem ständig wachsenden Verständnis pflanzlicher Genome zukünftig erweitert werden sollte, ist notwendig.

2. Maximale Anzahl der Veränderungen

Die Festlegung der Kommission auf eine maximale Anzahl von 20 Veränderungen pro Pflanze wirft eine Reihe von Fragen auf.

  1. Die maximale Anzahl von 20 gezielten Veränderungen in einer NGT-1 Pflanze ist sehr gering verglichen mit Tausenden zufälliger Veränderungen im Erbgut nach klassischer Mutagenesezüchtung. Diese durch Mutagenese erzeugten Pflanzen sind von der GVO Regulierung ausgenommen.

  2. Eine Kreuzung zweier NGT-1 Pflanzen soll laut Europäischer Kommission ebenfalls als NGT-1 Pflanze betrachtet werden, auch wenn damit die maximale Anzahl von 20 Veränderungen übertroffen wird. Die Europäische Kommission sieht in der Überschreitung der festgelegten maximalen Zahl von 20 also keinen Anstieg des Risikos; diese Sicherheitseinschätzung teilt die ZKBS. Letztendlich ist damit die Festlegung einer maximalen Änderungszahl relativiert.

  3. Die ZKBS teilt den Standpunkt, dass die Anzahl der Veränderungen auf den Haplotyp einer Pflanze bezogen werden muss, also unabhängig ist vom Ploidiegrad einer Pflanze. Dieses sollte klarer formuliert werden. Zum Haplotyp einer Pflanze müssen nach Ansicht der ZKBS auch die Haplotypen von Plastiden und Mitochondrien zählen. Das sollte von der Europäischen Kommission auch im Entwurf verankert werden.

  4. Zu den maximal 20 Veränderungen zählen laut Vorschlag der Kommission alle Veränderungen in bioinformatisch vorhersagbaren Regionen im Erbgut. Aus zwei Gründen sollten solche potentiellen ungewollten Ereignisse bei der Zählung der Veränderungen jedoch nicht berücksichtigt werden.
    a) Diese Regionen lassen sich ohne die vorherige genaue Kenntnis der Genomsequenz oder des Pangenoms nicht festlegen. Solche Informationen liegen für viele Pflanzenarten nicht vor, könnten aber später bekannt werden mit der Folge, dass Rechtsunsicherheiten entstehen könnten.
    b) Solche ungewollten Ereignisse treten bei NGTs selten auf, vor allem im Vergleich zur klassischen, nicht zielgerichteten Mutagenesezüchtung.

Die ZKBS möchte mit dieser Stellungnahme zu einer Konkretisierung des Gesetzesvorhabens beitragen, um dieses rechtssicher und zukunftsfähig zu gestalten.

REFERENZEN

1. European Commission (2021). EC study on new genomic techniques. Study on the status of new genomic techniques under Union law and in light of the Court of Justice ruling in Case C-528/16 https://food.ec.europa.eu/plants/genetically-modified-organisms/new-techniques-biotechnology/ec-study-new-genomic-techniques_en. Besucht am 11.10.2023.

2. European Commission (2023). New techniques in biotechnology. Proposal for a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL on plants obtained by certain new genomic techniques and their food and feed, and amending Regulation (EU) 2017/625 https://food.ec.europa.eu/plants/genetically-modified-organisms/new-techniques-biotechnology_en. Besucht am 11.10.2023.

3. Paraskevopoulos K, Federici S (2021). Overview of EFSA and European national authorities' scientific opinions on the risk assessment of plants developed through New Genomic Techniques. EFSA J 19(4):e06314.

4. Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (2012). Stellungnahme der ZKBS zu neuen Techniken für die Pflanzenzüchtung. (Az. 402.45310.0104).

5. Cao J, Schneeberger K, Ossowski S, Günther T, Bender S, Fitz J, Koenig D, Lanz C, Stegle O, Lippert C, Wang X, Ott F, Müller J, Alonso-Blanco C, Borgwardt K, Schmid KJ, Weigel D (2011). Whole-genome sequencing of multiple Arabidopsis thaliana populations. Nat Genet 43(10):956–63.

6. Jayakodi M, Padmarasu S, Haberer G, Bonthala VS, Gundlach H, Monat C, Lux T, Kamal N, Lang D, Himmelbach A, Ens J, Zhang X-Q, Angessa TT, Zhou G, Tan C, Hill C, Wang P, Schreiber M, Boston LB, Plott C, Jenkins J, Guo Y, Fiebig A, Budak H, Xu D, Zhang J, Wang C, Grimwood J, Schmutz J, Guo G, Zhang G, Mochida K, Hirayama T, Sato K, Chalmers KJ, Langridge P, Waugh R, Pozniak CJ, Scholz U, Mayer KFX, Spannagl M, Li C, Mascher M, Stein N (2020). The barley pan-genome reveals the hidden legacy of mutation breeding. Nature 588(7837):284–9.

7. Tang D, Jia Y, Zhang J, Li H, Cheng L, Wang P, Bao Z, Liu Z, Feng S, Zhu X, Li D, Zhu G, Wang H, Zhou Y, Zhou Y, Bryan GJ, Buell CR, Zhang C, Huang S (2022). Genome evolution and diversity of wild and cultivated potatoes. Nature 606(7914):535–41.

8. Liu Y, Du H, Li P, Shen Y, Peng H, Liu S, Zhou G-A, Zhang H, Liu Z, Shi M, Huang X, Li Y, Zhang M, Wang Z, Zhu B, Han B, Liang C, Tian Z (2020). Pan-Genome of Wild and Cultivated Soybeans. Cell 182(1):162-176.e13.

9. Gui S, Wei W, Jiang C, Luo J, Chen L, Wu S, Li W, Wang Y, Li S, Yang N, Li Q, Fernie AR, Yan J (2022). A pan-Zea genome map for enhancing maize improvement. Genome Biol 23(1):178.

10. Li N, He Q, Wang J, Wang B, Zhao J, Huang S, Yang T, Tang Y, Yang S, Aisimutuola P, Xu R, Hu J, Jia C, Ma K, Li Z, Jiang F, Gao J, Lan H, Zhou Y, Zhang X, Huang S, Fei Z, Wang H, Li H, Yu Q (2023). Super-pangenome analyses highlight genomic diversity and structural variation across wild and cultivated tomato species. Nat Genet 55(5):852–60.

MINDERHEITSVOTEN

Die beiden nachfolgenden Texte stellen die Minderheitsvoten der ZKBS Mitglieder der Bereiche Umweltschutz und Naturschutz ohne redaktionelle Änderungen dar.

Am 10. November 2023 wurde die Preprint-Server Quelle Samach et al. 2023 im Minderheitsvotum von Frau Dr. Bücking ersetzt durch den Verweis auf das offiziell publizierte Paper.

Minderheitenvotum aus dem AK Neue genomische Techniken zum „Kommentar der ZKBS zum Vorschlag der Europäischen Kommission zur Neuregulierung von Pflanzen, die mit „Neuen Genomischen Techniken (NGT)“ gezüchtet wurden

Oktober 2023

Dr. Elisabeth Bücking, Sölden

Begründung

Die darin dargelegten Auffassungen teile ich nicht uneingeschränkt.

Votum

1. Im Kommentar wird auf die „wissenschaftliche Sicht der ZKBS, anderer nationaler Überwachungsbehörden sowie der EFSA“ hingewiesen als Belege, dass NGT-Pflanzen kein erhöhtes Risiko gegenüber klassisch gezüchteten Pflanzen besitzen. Diese Einschätzungen haben neuere wissenschaftliche Ergebnisse allerdings noch nicht in Betracht ziehen können – die EFSA -Einschätzung wurde 2021 veröffentlicht. Neuere Studien deuten durchaus auf höhere Risiken durch die Anwendung von NGT bei Pflanzen hin, vgl. CRISPR/Cas9-induced DNA breaks trigger crossover, chromosomal loss, and chromothripsis-like rearrangements, A. Samach et al., The Plant Cell, 27 July 2023 https://doi.org/10.1093/plcell/koad209

2. Eine Schwierigkeit bei der Neuregulierung besteht darin festzulegen, wie die Äquivalenz zu klassisch gezüchteten Pflanzen definiert werden kann. Das ist deshalb entscheidend, weil Pflanzen mit dieser Äquivalenz als NGT-1 - Pflanzen von der Regulierung nach
Gentechnikrecht – also u. a. von der Risikoprüfung und der allgemeinen Kennzeichnung - ausgenommen werden.
Im Entwurf wurde dafür u. a. ein Grenzwert für die Zahl der erlaubten genotypischen Abweichungen gewählt. Dieser Grenzwert ist nicht wissenschaftlich, sondern juristisch begründet.
Ein solcher Grenzwert ist wissenschaftlich grundsätzlich nicht begründbar, da es keine Gesetzmäßigkeit gibt, nach der wenige Abweichungen im Genotyp geringe und mehr Abweichungen stärkere Veränderungen des Phänotyps bewirken. Die Auswirkungen auf den Phänotyp - die Eigenschaften der Pflanze - und das damit ggf. verbundene ökologische Risiko hängen vom Ort und Kontext der genotypischen Abweichungen ab.
Daraus folgt, dass eine wesentliche Möglichkeit, NGT-1 - Pflanzen zu identifizieren, entfällt. Eine logische Konsequenz wäre, die Kategorie NGT-1 insgesamt aufzugeben.

3. Punkt 4. Im Abschnitt „Maximale Anzahl der Veränderungen“ deutet darauf hin, dass aus der Sicht des Arbeitskreises NGT auch dann eingesetzt werden sollen, wenn das Gesamtgenom nicht sequenziert ist. Das wäre für mich nicht akzeptabel. Es bliebe hinter den Möglichkeiten einer sich schnell entwickelnden Analysetechnik zurück und wäre ein Verzicht darauf, Risikolosigkeit zu verifizieren.

4. Ausführlich wurde im Arbeitskreis darüber diskutiert, ob nicht ein Abschnitt zu „Wildpflanzen“ eingefügt werden sollte mit dem Ziel, die Neuregulierung auf Nutzpflanzen zu beschränken. Wildpflanzen stehen in zahlreichen ökosystemaren Zusammenhängen. Ihre Bearbeitung mit NGT, die zu neuen Geno- und Phänotypen führt, lässt weiteren Biodiversitätsverlust erwarten, wenn sie freigesetzt werden (vgl. Minderheitenvotum Katja Tielbörger). Ich bedaure, dass ein solcher Abschnitt nicht aufgenommen wurde. Der Hinweis auf „internationale und nationale Regelungen“ und die darin „festgelegten naturschutzbiologischen Ziele“, die „von der neuen Regulierung unbeeinflusst bleiben“ sollen, sind dafür kein Ersatz.

Minderheitenvotum zur Stellungnahme der ZKBS zum Vorschlag der Europäischen Kommission zur Neuregulierung von Pflanzen, die mit "Neuen Genomischen Techniken (NGT)" gezüchtet wurden

Oktober 2023

Prof. Dr. Katja Tielbörger, Universität Tübingen

Begründung

Die darin dargelegten Auffassungen werden nicht von allen AK-Mitgliedern uneingeschränkt geteilt.

Votum

1) Wichtigster Punkt:
Der Vorschlag der EU-Kommission bezieht sich ausdrücklich auf ‚alle Pflanzenarten‘, also potentiell 300 000 Pflanzenarten (Mora et al. 2011). Tiere und Mikroorganismen sind ausgenommen mit der Begründung, dass das Wissen über diese Organismengruppen nicht ausreichend ist.

Die Ausweitung der Kategorie der NGT-1 – Pflanzen auf alle Pflanzen, d.h. auch auf solche, die nicht landwirtschaftlich genutzt werden, ist aus der Sicht der ökologischen und naturschutzbiologischen Wissenschaft außerordentlich problematisch. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse (s.u.) sind weder im Entwurf der EU-Kommission noch in der ZKBS-Stellungnahme berücksichtigt.

Das Einbringen von neuem genetischem Material in eine natürliche Population wird zwangsläufig zur Auskreuzung mit den Pflanzen in der Wildpopulation führen. Dies kann u.a. folgende negative Konsequenzen haben:

Es kann einerseits zu ‚outbreeding depression‘ kommen (z.B. Montalvo & Ellstrand 2001), d.h. nachteilige Allele können sich in der Population ausbreiten, und somit deren Überleben gefährden. Dieses Risiko ist angesichts der gegenwärtigen Biodiversitätskrise nicht akzeptabel.

Das Einbringen von neuen Genotypen in natürliche Populationen und Gemeinschaften kann auch dazu führen, dass sich die neuen Genotypen rapide vermehren und ausbreiten, und somit ganze Artengemeinschaften gefährden. Aus der Invasionsbiologie wissen wir, dass dieses Risiko mit der Zahl der neuen Genotypen oder Arten rapide ansteigt (Lockwood et al. 2009). Auch dieses Risiko ist im Zeitalter des Artensterbens problematisch.

Aus diesen Gründen sind in internationalen (z.B. Biodiversitätskonvention) oder nationalen (z.B. §40 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG) Regelungen sogar innerartliche Relokationen von Pflanzen und Tieren untersagt, bzw. bedürfen einer sorgfältigen Risikoanalyse, z.B. im Rahmen von Renaturierungsmaßnahmen mit nicht-regionalem Saatgut (z.B. Breed et al. 2013). Auch Maßnahmen wie,assisted migration‘ im Zeitalter des Klimawandels werden aus o.a. Gründen, und weil deren Wirksamkeit sehr fraglich ist (z.B. Bucharová et al. 2016, Gomez et al. 2015), in der wissenschaftlichen Literatur sehr kontrovers diskutiert (z.B. Hamilton 2001, Ricciardi & Simberloff 2009).

Eine Regelung, welche NGT-1-Pflanzen als ‚quasi-natürlich‘ einstuft, und somit das Ausbringen in Wildpopulationen ermöglicht, würde also irreversible Risiken für den Natur- und Artenschutz beinhalten, und ggf. auch Konflikte mit bestehenden rechtlichen Regelungen erzeugen.

Die Annahme, dass über alle Wildpflanzen mehr bekannt ist als über Tiere und Mikroorganismen entbehrt einer wissenschaftlichen Basis. Diese Aussage ist nur zu verstehen, wenn es bei dem Entwurf der Kommission ausschließlich um Nutzpflanzen geht.

Den für den Natur- und Artenschutz steht kein sichtbarer Nutzen entgegen, denn das Papier der EU-Kommission sowie alle vorbereitenden Papiere sind sehr deutlich auf Nutzpflanzen im Agrarsektor fokussiert. Die Ausweitung der NGT-Regeln auf Wildpflanzen erscheint somit nicht nur risikoreich sondern unnötig. Daher sollte das Vorsorgeprinzip greifen, und das Ausbringen von NGT-Pflanzen in Wildpopulationen einer sorgfältigen Risikoprüfung unterliegen. D.h. die Kategorie NGT-1 sollte nicht für alle Pflanzenarten gelten und insbesondere nicht für Wildpflanzen. Dies schließt keinesfalls aus, dass neue Kulturpflanzen oder Genotypen aus Wildpflanzenpopulationen erschlossen werden.

2) Weiterer Punkt:
Eine Schwierigkeit bei der Neuregulierung besteht darin festzulegen, wie die Äquivalenz zu klassisch gezüchteten Pflanzen definiert werden kann. Das ist deshalb entscheidend, weil Pflanzen mit dieser Äquivalenz als NGT-1 - Pflanzen von der Regulierung nach Gentechnikrecht – also u. a. von der Risikoprüfung und der allgemeinen Kennzeichnung - ausgenommen werden.

Im Entwurf wurde dafür u. a. ein Grenzwert für die Zahl der erlaubten genotypischen Abweichungen gewählt. Dieser bezieht sich auf genau eine Publikation mir einer einzigen Art (Cao et al. 2011).

Ein solcher Grenzwert erscheint auch wissenschaftlich schwer begründbar, da es keine Gesetzmäßigkeit gibt, nach der wenige Abweichungen im Genotyp geringe und mehr Abweichungen stärkere Veränderungen des Phänotyps bewirken. Das Risiko für den Natur- und Artenschutz hängt jedoch vom Phänotyp ab, sowie vom Ort und Kontext der genotypischen Abweichungen, und nicht aus einer bestimmten Zahl von genetischen Veränderungen.

Daraus folgt, dass eine wesentliche Möglichkeit, NGT-1 - Pflanzen zu identifizieren, entfällt. Eine logische Konsequenz wäre, die Kategorie NGT-1 insgesamt aufzugeben.

REFERENZEN

Breed MF, MG Stead, KM Ottewell, et al. 2013: Which provenance and where? Seed sourcing strategies for revegetation in a changing environment. Conservation Genetics 14: 1-10.

Bucharová A, W Durka, JM Hermann, et al. 2016: Plants adapted to warmer climate do not outperform regional plants during a natural heat wave. Ecology & Evolution 6: 4160-4165.

Cao J. et al. 2011: Whole-genome sequencing of multiple Arabidopsis thaliana populations. Nature Genetics 43: 956-963.

Gomez et al. 2015: The silent extinction: climate change and the potential hybridization-mediated extinction of endemic high-mountain plants. Biodiversity Conservation 24:1843–1857.

Hamilton NRS 2001: Is local provenance important in habitat creation? A reply. Journal of Applied Ecology 38: 1374–1376

Lockwood JL, Cassey P, Blackburn TM. 2009. The more you introduce the more you get: the role of colonization pressure and propagule pressure in invasion ecology. Diversity and Distributions 15: 904-910

Montalvo AM, NC Ellstrand NC 2001: Nonlocal transplantation and outbreeding depression in the subshrub Lotus scoparius (Fabaceae). American Journal of Botany 88: 258-269.

Mora C, DP Tittensor, S Adl, AG Simpson, B Worm 2011: How many species are there on Earth and in the ocean? PLoS Biology 9: e1001127.

Ricciardi A, D Simberloff 2009: Assisted colonization is not a viable conservation strategy. Trends in Ecology and Evolution 24: 248-253


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erschienen: Oktober 2023

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